Prof. Dr. Claude Draude ist Professorin am Fachbereich Elektrotechnik/Informatik der Universität Kassel, Leiterin des Fachgebiets Gender/Diversity in Informatiksystemen (GeDIS) und Direktorin am Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnikgestaltung (ITeG).
Dr. Caroline Richter arbeitet als Soziologin in der Forschungsabteilung Bildung, Entwicklung, Soziale Teilhabe (BEST) am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Im folgenden Gespräch brachten die beiden Sachverständigen ihr Wissen über partizipative Gestaltungsansätze und diskriminierungssensible Modelle in der Informatik einerseits und über Geschlechterverhältnisse und Genderaspekte der Digitalisierung von (informeller) Pflege andererseits, zusammen.
Technik, die für unterschiedliche Personen in unterschiedlichsten Kontexten funktionieren soll, und demokratische Werte wie Diskriminierungsfreiheit und Geschlechtergerechtigkeit befördert, muss entsprechend gestaltet werden. Im Gutachten für den Dritten Gleichstellungsbericht werden hierzu entsprechende IT-Gestaltungsverfahren empfohlen.
Wie müsste so etwas denn genau aussehen und wird es real gemacht?
Richter: Ein wichtiger Anfang ist, Technologien IMMER als assistive Technologien zu verstehen und in diesem Sinne zu gestalten bzw. zugänglich zu machen. Der Mensch steht im Mittelpunkt von IT, das betont auch der soziotechnische Ansatz in besonderer Weise. IT soll Menschen unterstützen, immer, egal ob mit dem Smartphone, dem Mathe-Algorithmus oder der Hebe-Robotik. Ein für dieses Verständnis gutes Beispiel ist IT in der Pflege. Die Einbeziehung von pflegebedürftigen und von pflegenden Menschen in die Entwicklung digitaler, assistiver Technologien ist derzeit eher Ausnahme denn Regel, soweit ich es überblicke. Es gibt zwar eine Vielzahl an akademischen Forschungsprojekten, die „vor Ort“ in Pflegeeinrichtungen mit den genannten Nutzer*innengruppen konkrete Techniken und Prototypen entwickeln und erproben. Aber ihre Ergebnisse versiegen nach der Entwicklungs- und Evaluationsphase in den Katakomben von Hochschulen. Das ist nicht zuletzt so, weil produzierende und vertreibende Profit-Unternehmen ein zu geringes Marktpotenzial annehmen. Schnell gestrickte staatliche Förderungen und kurzfristige Start Up-Programme mit Profitabilitätsdruck sind für diese Art der Technikentwicklung nicht geeignet. Sie sichern keinerlei Nachhaltigkeit. Die ist in diesem Segment aber unerlässlich. Wenn Hilfsmittel für Nutzer*innen nicht schnell und unbürokratisch verfügbar gemacht werden, sind sie nutzlos.
Draude: Die IT-Gestaltungsverfahren, die im Gutachten empfohlen werden, schärfen das Bewusstsein darüber, dass mit IT stets soziotechnische Systeme gestaltet werden. Das bedeutet für dein Beispiel, dass Expertise aus dem Anwendungsfeld Pflege genauso ernst genommen werden muss wie technische Expertise. Zudem sollten in jeder Phase des Entwicklungsprozesses Reflexionsebenen einbezogen werden, die Diskriminierungsrisiken minimieren. Das heißt hier, Menschenbilder zu hinterfragen, die beispielsweise hinter der Idee eines Pflegeroboters oder der distanzierten Fernüberwachung Pflegebedürftiger stehen. Es heißt auch, für lebensnahe Tests von Konzepten und Prototypen Beteiligte und Kontexte so divers wie nur möglich auszuwählen. Und es bedeutet zu schauen, welche Hierarchien und Machtgefüge in Pflegeeinrichtungen bestehen und was dies für assistive Technologien bedeutet.
Beteiligte und Betroffene müssten, wie du sagst, idealerweise durchgängig in Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Entsprechende partizipative Design-Ansätze haben in der Informatik eine lange, wenn auch marginalisierte Tradition.
Richter: Partizipative Entwicklungsmethoden konsequent zu nutzen, ist anscheinend nur nicht etablierte Praxis. Mitte 2018 konstatierte der Fachinformatiker und Gesundheits- und Pflegewissenschaftler Christian Buthz, dass ihm keine Firmen bekannt seien, die partizipativ assistive Technologien entwickelten. Mir ist bis heute ebenfalls keine bekannt.
Woran könnte das liegen und was müsste sich ändern?
Richter: Mein vorsichtiger Eindruck ist, dass eine Hürde in der Praxis ist, dass die Bedarfe und Prioritäten von pflegenden Angehörigen möglicherweise andere sind als die von professionell Pflegenden, von den Bedarfen der Pflegebedürftigen mal noch gar nicht zu sprechen. Mir scheint, der Sprung von den Ansätzen und Vorschlägen in der Wissenschaft, wo die Notwendigkeit partizipativer Ansätze oft viel selbstverständlicher gesehen wird, zur Praxis in den Unternehmen wird oft nicht gemacht.
Aber die Stellschrauben sind klar: Erstens muss eine Datenbank her, damit z. B. Tübingen merkt, wenn Hannover am gleichen Gegenstand arbeitet. Als Grundlage könnte die Datenbank REHADAT dienen, die schon viel abbildet. Was mir vorschwebt, müsste aber beim Forschungsministerium BMBF angesiedelt sein, um für Wissenschaft einschlägig, inhaltlich vollständig und in Sachen laufende Forschungsförderung für IT-Projekte immer aktuell sein zu können. Zweitens müssen etablierte Unternehmen an ihre gesellschaftliche Verantwortung erinnert werden. Die erschöpft sich nicht nur im Generieren von Profit, sondern auch in Investitionen für Produkte, die eine weniger solvente Klientel- und Institutionenlandschaft braucht.
Diese Forderung teile ich mit vielen Kolleg*innen aus der Behinderungs- und Assistenztechnologieforschung.
Draude: Ein ganz grundlegendes Problem ist es auch, dass die vorher schon erwähnte soziotechnische Perspektive bislang noch nicht flächendeckend verankert ist und politisch zu wenig gefördert wird. Eine strikte Trennung von Sozialem und Technischen verhindert, beides als gleichwertig wahrzunehmen und Anwendungswissen und kritische Reflexion in technischen Entwicklungsprozessen entsprechend zu berücksichtigen.
In der Softwareentwicklung braucht es zudem griffige Gestaltungsverfahren, die z.B. an Prozessmodellen anknüpfen, mit denen Entwickelnde arbeiten. Das bedeutet, dass bekannte Phasenmodelle, die iterativ Anforderungsanalyse, Modellbildung, Tests von Prototypen und Wireframes, Releases lauffähiger Programmpakete und deren Evaluation und Deployment durchlaufen, zusätzlich Gender- und Diversity-Aspekte integrieren sollten. Die Überprüfung auf diese Aspekte hin sollte dabei auch nicht nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn es bei der Entwicklung explizit um eine als vulnerabel wahrgenommene oder marginalisierte Gruppe geht, denn implizit spielen Gender- und Diversity-Aspekte immer eine Rolle. Derartige Modelle müssen Mainstream werden.
Im Gutachten schlägt die Sachverständigenkommission das sogenannte „Gender- Extended-Research-and-Development-Modell“ (GERD-Modell) vor. Was sind die Besonderheiten dieses Entwicklungsmodells und wie könnten Firmen dies adaptieren?
Draude: Die Besonderheit des Modells ist, dass es Wissen aus der Geschlechter- und Diversitäts-Forschung mit einem idealtypischen Vorgehen in der IT-Forschung und -Entwicklung verknüpft. In Anlehnung an bestehende Vorgehensmodelle benennt GERD sieben Phasen von Forschung und Entwicklung, die im Uhrzeigersinn und z. T. wiederholt durchlaufen werden: die Anstöße für ein Projekt, die Vorhabensdefinition, die Analyse, die Modell-/Konzeptbildung, die Realisierung, die Evaluation sowie die Verbreitung des Produkts bzw. der Ergebnisse. Jede Phase wird exemplarisch durch bestimmte Aktivitäten charakterisiert. Gerahmt werden die Phasen durch sogenannte Reflexionsaspekte. Diese Reflexionsaspekte regen zu einer erweiterten Betrachtung von Forschungsfragen und Entwicklungsentscheidungen an.
Ich gebe mal ein Beispiel: Die Entwicklung von Assistenzsystemen in „Smart Homes“ spielt auch in der Pflege eine Rolle. Wie du sagst, ist in der Forschung inzwischen klar, dass pflegende Angehörige und ihre Bedarfe in der Entwicklung der Smart-Home-Systeme bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren haben.
Richter: Informelle Pflegearbeit wird, ähnlich wie andere reproduktive Tätigkeiten, zumeist unbezahlt und von Frauen geleistet. Pflegearbeit muss mit der eigenen Erwerbsarbeit und dem persönlichen Alltag koordiniert werden. Diese unbezahlt tätigen Pflegenden haben in den meisten Fällen keine Ausbildung für diese Tätigkeit und sind weder erfahren mit Assistenztechnologien noch routiniert mit der Beantragung von Hilfsmitteln.
Draude: Ja, hier wird ein Gestaltungsbereich mit vielseitigen neuen Anforderungen sichtbar. Diese Anforderungen gehen weit über die unmittelbaren Bedarfe der zu pflegenden Menschen selbst hinaus.
Mit dem GERD-Modell wird dies bereits in einer frühen Entwicklungsphase einer Smart-Home-Applikation klar, nämlich während der Vorhabensdefinition. In dieser Phase hilft das GERD-Modell genauer zu reflektieren, welche Personen die Entwickler*innen mit der Zielgruppe der Smart-Home-Applikation im Blick haben. Sie fragen sich, wie sich Zieldefinitionen und Zielgruppe verknüpfen. Dabei prüfen sie explizit, ob es Personengruppen und somit Bedarfe gibt, die unsichtbar bleiben. Zudem wird gefragt, welches Wissen bei der Produktentwicklung zum Einsatz kommt – ist es Alltagswissen, Wissen der Zielgruppe oder wissenschaftlich abgesichertes. Die Entwickler*innen würden auch fragen, aus welchen anderen Disziplinen sie Expert*innen heranziehen könnten usw.
Richter: Hier könnte eine Datenbank für Forschungsprojekte in diesem Bereich, wie ich sie vorhin vorgeschlagen habe, auch helfen.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn nur ein Bruchteil der Fragen, die im GERD-Modell zur Reflexion vorgesehen sind, die Entwicklung assistiver Technologien begleiten. Es ist sicher noch ein steiniger Weg, das Nachdenken und Diskutieren über Dimensionen wie Menschenbild, Sprache, Werte, Machtverhältnisse, Nutzen, Relevanz oder Wissen als Teil einer Produktentwicklung zu etablieren.